Bücher

Lukas Meschik
Luzidin oder Die Stille
Roman
ca. € 25,- / Sfr 35,90, WG 1112
[978-3-902497-99-4]
Wahnsinn in allen Schattierungen
«Luzidin wird ohne Beipackzettel ausgeliefert, dafür mit aufwendig gestaltetem und wohl durchdachtem Manifest.» Luzidin ist eine Droge aus dem Labor des 24-jährigen Wiener Autors Lukas Meschik. Über ihre Wirkung und Nebenwirkungen informiert der fast 600 Seiten starke (Beipack-)Roman «Luzidin oder Die Stille», ein Koloss an Sprach- und Bildermacht. Er ist das dritte Elaborat aus Meschiks literarischer Versuchsanstalt, die 2009 mit der Apokalypse «Jetzt die Sirenen» ihren Anfang nahm. Ein Jahr später folgte der Erzählband «Anleitung zum Fest», dessen Versehrtheits-Topoi (Amputation; Schändung) und Utopoi (ortloser Ort) in «Luzidin» ebenso wiederbegegnen wie der Schauplatz Wien: diesmal als Weltbühne – und als Person.
In binären Sackgassen
Den erzählerischen «Rahmen» bildet – welch schöner innerer Widerspruch – das Universum. Und irgendwo da draussen hockt unser Poeta doctus, zoomt sich mit seinem Kaleidoskop Wien heran, schickt es in den Boxring und lässt es siegen: zuerst gegen die Rivalin Berlin; dann gegen Gott, der, krebskrank und inkontinent, hienieden weilt. Zumindest der Allwissende hätte es ahnen können: An Wien, das seinen Schlagobers-Charme mit einer letalen Dosis Gift versetzt, beisst man sich die Zähne aus. (Es grüssen herzlich: Karl Kraus, Anton Kuh, Thomas Bernhard.) Die flotte Persiflage ist nur Beiwerk einer gewaltigen Gesellschaftssatire.
Lukas Meschik mag keine Halbheiten. Mit 17 pfeift der gebürtige Wiener aufs Abitur, um sich ganz seinen Leidenschaften zu widmen: Er gründet die Indie-Band Filou, und er wird Schriftsteller. Dafür gibt er alles, selbst sein (gespendetes) Blut. Mit «Luzidin oder Die Stille» bringt er nun ein Doppelgeschütz, eine Legierung aus Utopie und Dystopie, in Stellung. Es zielt auf den tiefgreifenden Umbruch, den das «Zeitalter des Homo communicans» mit sich bringt, «die Umsiedlung der Existenz auf den virtuellen Raum». Das Gedachte gibt es dort bloss noch als das Mitgeteilte. Was nicht kommuniziert wird, existiert nicht. Der Mensch verkommt zur Summe seiner Benutzerprofile. Festgewachsen auf seinem Bürostuhl und festgefahren in binären Sackgassen, nimmt er sich selbst aus dem Spiel. Sein Avatar, das «Zweit-Ich der Zweitwelt geht bereits seine eigenen Wege».
Gegen diese Endstufe der Evolution agiert die «Gruppe der Sieben Gefahren». Sie personifiziert die Sieben Todsünden der Gegenwart (Schuld, Amputation, Verzicht, Einsamkeit, Verwahrlosung, selbstausbeuterische Pflicht, Ankunft) und schildert diese in exemplarischen Traktaten. Zum geheimbündlerischen Kollektiv, das sich alljährlich in der Wiener «Fluchtgasse» versammelt, gehören etwa der Toilettentester Ladislaus Kampf, die konstruktive Destruktivistin Elisa Slavik, der «Humorist M» oder der «Silen», Chef eines Swingerklubs und Pornograf. Ihre Schriften fügen sich zu einem «Überbuch, philosophischer als Dichtung, dichter als Philosophie. Nichts beschönigende, alles entstellende Sprachwucherung, aggressive Geschwulst. . . . Ein poetisches Gefährt, das zu den Sternen reisen lässt.» Ja, Meschik ist ein Rebell mit – selbstironischem – Absolutheitsanspruch. «Absolute Sprachbeherrschung ist das Minimum, weniger sollte in der Schreibendenwelt gar nicht vorgesehen sein», heisst es in der Poetologie, die «Luzidin» beigemengt ist. Die Latte liegt hoch, der Autor nimmt sie so virtuos wie spielerisch.
Erkenntnisse im Fünferpack
Den dystopischen Part in Meschiks Siebnerbande mimt Lucius Bohm, Herr eines dunklen Imperiums. Er produziert «ethisch unbedenkliches» Kunstfleisch, Erkenntnisse im Fünferpack, Wahnsinn in allen Schattierungen – und eben Luzidin, die Modedroge zur kollektiven Weltflucht. Sie versetzt die Leute in den luziden, bewussten Traumzustand, in dem der Träumende «Held seiner Geschichte» ist. Gestaltungsspielraum gibt es in Lukas Meschiks Warnutopie nur noch im Klartraum und in der virtuellen Welt.
Bohm wird an seiner Horror-Holding buchstäblich verbluten. Zuvor aber will er die Schöpfung wiederholen. Er transferiert den Teilchenbeschleuniger des Cern nach Wien, wo es, anders als in der übervorsichtigen Schweiz, nicht an jenem Wahnsinn fehlt, «von dem man geleitet sein muss, wenn man die Erkenntnisgrenzen durchbrechen will». Doch Bohms Projektleiter Justus Geheimnis manipuliert die «Kreismaschine» und führt – von allen unbemerkt – einen Weltentausch herbei.
Bohm ist tot. Gott ist tot. Auf seinem Thron hockt eine fette Dame namens Geld. Und nun lässt Meschik auch noch die Kommunikationswolke bersten. Eine reinigende Buchstabensintflut ergiesst sich über Wien. Absolute Stille kehrt ein. Die Apokalypse. Oder auch nicht. Denn die Buchstaben zeigen Sickerwirkung und machen die Stadt «zu einem fruchtbaren Boden. Das Erzählbare ist überall.» Meschik hebt es auf, baut daraus ein Bücherboot, «das etwas verändert oder wenigstens etwas begreift oder wenigstens etwas Begriffenes weiterführt». Literatur kann die Welt nicht verändern, aber sie kann sie wort- und trickreich infrage stellen.
«Luzidin» ist ein überbordendes Imaginarium, durch das uns ein «magischer Ulk» eskortiert, immer schön am Abgrund entlang. Szenen, Figuren, Zeit- und Bewusstseinsebenen wechseln abrupt. Ganz selten flackern im Buch Glücksmomente auf, als matter Abglanz einer fernen Zeit. Mosaikhaft und aus einer Vielzahl von Perspektiven ersteht die Welt, wie sie ist und wie sie werden könnte. Der haarsträubenden Komplexität (alles hängt mit allem zusammen) wird die neue Textsorte «Assoziat» gerecht. Mitunter hat der Leser seine Müh, das Stimmengewirr zu entwirren. Doch genau darum geht es ja: um die Schärfung der Weltwahrnehmung.
Ingeborg Waldinger, Neue Zürcher Zeitung
Die sieben Gefahren
Allegorische Figuren, seltsame Personen tummeln sich in Lukas Meschiks Roman „Luzidin oder Die Stille“. Die Stadt Wien etwa siegt zwar in einem Boxkampf gegen Berlin, muss aber einige Gebäudetreffer einstecken..
Luzidin oder Die Stille“ ist der umfangreiche zweite Roman von Lukas Meschik, Autor, Sänger und Texter, der durchaus einlöst, was 2009 sein Debüt „Jetzt die Sirenen“ versprochen hat. Das ungestüm Wilde jedenfalls ist geblieben: „Das Universum ist groß. Womit der Erzählrahmen abgesteckt wäre“ lautet das Motto – auch wenn der kosmologische Auftakt mit einer etwas verwitzelten Apokalypse in der „Wetterkapriole“ eines Buchstabensuppenregens endet.
Über weite Strecken hält der Roman mit schroffen Brüchen und kalkulierten Unschärfen Tempo und Konstruktion durch. „In die Thematik eintauchen, sich darin verlieren. Mosaikerzählung“, erklärt späterhin die Figur des „magischen Ulk“, die „neue Textsorte heißt Assoziat“; in den besten Passagen aber zeigt der Roman genau das und bedarf keiner Erklärung. Das Erzählkaleidoskop – das Bild wird immer wieder eingespielt – würfelt vorgegebene Teilchen immer neu und immer bunt zusammen, und die Themen und Milieus brachial verschneidende Atemlosigkeit erzeugt mitunter das Gefühl, hier kommt ein Autor ganz nah an die zentralen Bruchstellen unserer Gesellschaft heran: die „Diktatur der Zerstreuung“, die Überforderung mit dem Aufbrechen von Sicherheiten und Grenzen, die Orientierungslosigkeit in der Fülle der Angebote, Optionen und Parallelwelten, die den auf Cocooning programmierten Homo habitans zum Homo communicans mutieren ließen. Der ist ein „Mischwesen aus Zimmer, Mensch und Elektrosmog“, das über sein „Dahinvegetieren“ öffentlich Tagebuch führt und sich selbst als „eigenes Ressort“ genügt. Gesellschaftliche Problemzonen materialisieren sich dabei gern zu allegorischen Figuren. Es treten auf: das Geld, Wien, die Einsamkeit, aber auch das Gespenst der Studiengebühren oder der Tinnitus, gegen Ende aufgelöst als Fallout des digitalen Kommunikationsmülls.
Dass sich ein Terroristenpärchen, das sprengend durch die Lande zieht, um neuer Architektur Bahn zu brechen, auf das Buch „Gebäudelosigkeit“ beruft, partizipiert an der Wunschfantasie vom unmittelbaren Wirksamwerden des Geschriebenen. Das gilt auch für die „Gruppe der sieben Gefahren“, die – analog zu den sieben (aktualisierten) Todsünden – schreibend halb Weltverschwörung, halb Welterrettung im Auge hat. Das ermöglicht Meschik, das possierliche Haustier Anton zu erfinden – ein fünffüßiger Jambus, der sich von Buchseiten nährt – und satirische Besichtigungen des Literaturbetriebs ebenso einzuschleusen wie eine Hommage an den rührigen Verleger des Luftschacht Verlags, dem der Autor mit diesem Buch freilich untreu geworden ist.
Als einer der sieben Geheimbündler öffentlich über den Alltag des Schreibenden spricht, geht das für ihn nicht gut aus. Nicht, weil er gegen die Schreibhandwerker aus den Schreibschulen polemisiert, sondern, weil er eine Regel der Siebenerbande missachtet hat, weshalb er auf reichlich grausame Art zum Verstummen gebracht wird. Einer der Exekutoren zieht sich daraufhin in eine Anstalt zurück, das „sterile Lazarett für urbane Einzelkämpfer“. „Glasknochenkrankheit der Seele“ scheint nach dem verübten Gewaltexzess, das er mit Horrorprotokollen von Folterungen an Heiminsassen fortschreibt, freilich nicht die ganz richtige Diagnose.
Der zweite Täter hat keinerlei Gewissensprobleme. Es ist Silen, der explizit bocksfüßige Betreiber des Swingerklubs, den eine Delegation Parlamentarier regelmäßig frequentiert; die Herren amüsieren sich immer gut, und sei es mit der kollektiven Vergewaltigung der „Superpraktikantin“ Melinda; sie arbeitet später an Silens Porno mit, der als „Körperfilm“ zum Kunstwerk umetikettiert wird. Nicht nur Höllenwesen tauchen auf, auch Gott ist Romanfigur: alt, krebskrank, inkontinent, aber oversexed wie nur ein „alter, geiler Zwitter“, der allerdings nur physisch beide Geschlechter vereint; über weibliche Elemente in Charakter oder Sexualverhalten verfügt er nicht.
„Luzidin oder Die Stille“ ist ein Roman voller abgründiger Kapriolen, und sei es nur der „Geisterbus“, der als Sonderfahrt unerlöst zwischen zwei Destinationen verkehrt. Schriller sind die sieben und mehr Plagen, die Ladislaus Kampf in seinem Genossenschaftsbau erleidet, oder durch die unerträgliche Nähe und Vielheit in den städtischen Verkehrsmitteln. Er ist Toilettentester und Waschraumexperte – ein Abfallberuf der Kreativindustrie – bei einer Firma für Sanitärbedarf. Sie ist Teil eines Firmenkonglomerats, das künstliches Fleisch ebenso züchtet wie die Tagtraumdroge Luzidin und wohl auch beim Experiment der Weltallgeburt mitmischt. Das Gefühlsleben der Menschen aber behält unauslöschliche archaische Reste, das zeigt just die Figur des Technikers, der die „Kreismaschine“ vom Cern nach Wien verpflanzt und selbst gemachten Hollundersirup als Mitbringsel ebenso schätzt wie seine bewusst klischiert gezeichnete Idealbeziehung samt zugehörigen Lebenslügen.
Manches verliert im Lauf des Romans ein wenig an Kraft, etwa die Reprise des surrealen Boxkampfes. Beim ersten zwischen Wien und Berlin ist Wien wegen des fortgesetzten Brain-Drain besser motiviert und gewinnt. Beim zweiten zwischen Wien und Gott bröckelt die Szenerie ein wenig ins Barock-Verspielte ab, so, wie „realiter“ jeder Haken, den Wien im Boxring einsteckt, Schrammen und blaue Flecken an Gebäuden und Monumenten zurücklässt. In der Vorbereitung führt ein mentaler Trainer Wien an besondere Stadtorte, aber daraus wird mehr eine Klischeesammlung. Wie farbig gerät im ersten Teil des Romans die Besichtigung des Hafens der Gestrandeten am Nischenort Wettbüro gegenüber jener des realen Albaner Hafens.
Nicht dass der Abstrusitätenwirbel zunimmt, sondern dass er ein wenig an den Verschleifungen mit der Realität abstumpft, ist das Problem. Und verzichtbar wären die Meinungsprosapassagen gewesen, in denen der Autor aus seinem komplexen Erzählkonstrukt heraustritt und mitteilt, was er zu einem Problem denkt.
Verwunderlich auch, dass er „auf Augenhöhe“, den jüngsten Phrasenbegriff aus allen Politikersonntagsreden, ungebrochen verwendet. Schließlich ist das eine Art Kampfbegriff in der Verschleierung des Faktums, dass gerade alles getan wird, damit immer größere Bevölkerungsteile auch bei politischer Radikalumkehr in den nächsten Jahrzehnten nie wieder in die Nähe einer Augenhöhe mit den stabilen Eliten gelangen werden. Und gerade davon erzählt Meschiks Roman: Am Ende wird das „Geld“ symbolisch inthronisiert – es erwirbt die freigewordene Immobilie Gottes, ein verfallenes Häuschen, aber in Toplage.
Evelyne Polt-Heinzl, Die Presse Gott boxt in einem Swingerclub namens Leben
"Das Universum ist groß." Wer so beginnt, spinnt - oder weiß genau, was er tut. Lukas Meschik weiß, was er tut in seinem Roman "Luzidin oder Die Stille". Obwohl: Als auf Seite 40 ein Disput mit Gott (von dem es heißt: "krebskrank im Endstadium") beginnt, unter einem "Mammutbaum im Nirgendwo", kehrt die "Spinnt der?"-Frage noch einmal zurück. Aber Seite für Seite verabschiedet sie sich.
Vom Universum, das er nie aus den Augen verliert, zoomt Meschik in mickrige Daseinsformen, teils schräg, oft raffiniert auf reale Ereignisse anspielend. Er geht den Dingen mit sprachlicher Wucht und wuchernder Poesie nach. Dafür nimmt er sich 563 Seiten Platz. Am Ende steht - quasi als Gegenpol zum ersten Satz - das Wort "Stille". Zwischen totaler Unübersichtlichkeit und dem unerfüllbaren Wunsch nach Stille entwirft er einen formal komplexen Text, dessen Lektüre verzückend verstört: Träume ohne Punkt und Komma, surreale Begegnungen, harte Bilder, Torkeln und Nüchternheit mischt er.
Da gibt es Justus’ Geheimnis. Ihn verfolgt ein dubioses Dröhnen. Es gibt die geheimnisvolle Droge Luzidin. Es gibt Ladislaus Kampf, Toilettentester und Wasch-raumexperte. Es gibt Wien und Berlin, die sich (gegen Gott) im Boxring messen. Es wimmelt von Politikern und anderen Zwielichtigen. Und, und, und . . . Dazu wird erzählt, dass die unheimliche Geschichte auch aufgeschrieben werden soll.
In der Uferlosigkeit - und in der Unmenge sich lose verknüpfender, irrer Handlungen - erinnert der Roman an das 1500-Seiten-Ungetüm "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace. Wie bei Foster Wallace bildet vieles, das hier steht, und mehr noch wie es geschrieben ist, wie es sich ineinander verschlingt in Atemlosigkeit und Grenzenlosigkeit, ein Attentat auf jedes oberflächliche Entertainment. Bestandsaufnahme einer heillos zerfransten Welt, von sozialen Netzwerken, die als unvergängliche Wolke, als "Abbild unserer Zeit", als Dröhnen drohend über uns schweben und Besitz ergreifen. Um daraus ein wildes Bild zu gestalten, legt sich Meschik mit der ganzen Welt an, und er hat das literarische Zeug, dass man in dieser Welt Hunderte Seiten lang versinken will. Obwohl erst 23 Jahre alt, ist dieser Schreibabenteurer keine Erstentdeckung. Die Schule hat er in der siebten Klasse hingeschmissen. "Ich weiß absolut, dass ich für den Rest meines Lebens Musik machen und schreiben werde", sagt er. Seine ersten beiden Bücher "Jetzt die Sirenen" (2009) und "Anleitung zum Fest" (2010) erschienen im Luftschacht Verlag. Auch diese Texte mäandern, in "Jetzt die Sirenen" direkt auf die Apokalypse zu, durchs Chaos. Das tosende Durcheinander sind Prinzip dessen, was beobachtet wird und auch der Art, wie es von Meschik erzählt wird.
Ein Swingerclub, in dem "Kanzlertag" ist, kann da als Metapher für tiefsinnige, nie langweilige Weltbetrachtung stehen. Jeder treibt mit jedem sein Spiel, ein Spiel, das Leben heißt und eine grauslich tragische Sache, ein dauernder Missbrauch sein kann.
Er wollte, sagt Meschik, jedes Jahr ein Buch veröffentlichen. Im vergangenen Jahr war das Buch aber ein Popalbum. Meschik ist auch Sänger und Texter der Band Filou, die 2011 ihr filigranes Debüt "Show" herausbrachte. Im Roman wie in seinen Songtexten zaubert Meschik Sätze. Und bisweilen - und das ist ein Schwachpunkt - geht die Liebe zu dieser Zauberei mit ihm durch. Dann explodieren Absätze, doch nach dem Ende der Detonation bleibt nur Rauch. Das betrifft aber nur wenige Passagen (und die lassen sich bei der riesigen Restmenge leicht weglesen).
Mit den ersten Werken weckte Meschik Genie-Verdacht. Sollte er das nicht sein, ist er jedenfalls ein Wagemutiger, der sich eine eigene Sprache erschreibt, die einen ungeheuren Strudel erzeugt. ". . . begreifen, dass man selbst das Weltgefüge darstellt und beeinflusst . . ." heißt es an einer Stelle. Nichts anders richtet die Lektüre an. Und über die Droge heißt es: "Sie werden Luzidin bejahen, nicht mehr die Realität, nie mehr." Dieser Roman ist Luzidin.
Bernhard Flieher, Salzburger NachrichtenAlles gehört dir, eine Welt aus Papier
Mit dem Roman „Jetzt die Sirenen“ (2009) und dem Erzählband „Anleitung zum Fest“ (2010), beides schlanke Bücher von erstaunlicher Sprengkraft, in denen sich das radikale Denken eines jungen Hirns mit hohem Sprachbewusstsein vereinte, hat sich der Wiener Lukas Meschik (Jg. 1988) erste Aufmerksamkeit erschrieben. Jetzt legt er einen weit über 500 Seiten starken neuen Roman vor – und damit einen ordentlichen Auftritt hin, stellt ein Buch von solchem Ausmaß doch immer auch eine Ansage dar: Welt, hier bin ich.
In „Luzidin oder Die Stille“ geht es – und das nimmt in einer Zeit, in der die Erzählräume der meisten Romane sehr genau und überschaubar abgesteckt sind, schon einmal für den Autor ein – um alles: um das Erleben von Wirklichkeit im Zeitalter des sogenannten Homo communicans („Kommuniziert werden muss alles, was stattgefunden haben will“); um Wien (das hier selbstbewusst als Welthauptstadt in Erscheinung tritt); um die Liebe, das Geld, Gott, Drogen, Sex; und immer auch ums Schreiben und um die Frage, wie heute Geschichten zu erzählen wären: „Alles, was es über das Universum zu glauben gibt, lässt darauf schließen, dass man noch lange an der Nase herumgeführt, noch ewig gezwungen sein wird, für immer neue Eigenschaften neue Wörter zu erfinden, die neue Zungen verlangen, um neue Laute zu bilden.“
Gewiss: Es braucht einiges an Selbstvertrauen, um einen Roman mit dem Satz „Das Universum ist groß“ zu beginnen. Meschik bringt es mit, und zwar durchaus berechtigt. Was er in den auf diesen Satz folgenden 563 Seiten aufführt, steht in puncto Erfindungsreichtum und Eigensinn in der deutschsprachigen Literatur der letzten Zeit ziemlich allein da; und dass der Autor, obwohl Schulabbrecher, ein für sein Alter eminent gescheiter, in vielen Wissensgebieten beschlagener Zeitgenosse ist, steht bei der Lektüre sowieso schnell außer Frage.
Das Universum ist der Ausgangspunkt, beruhigenderweise landet man nach kurzer kosmischer Ouvertüre aber doch auf vertrautem Terrain in Wien, genauer: in einem Backsteinhaus im zweiten Bezirk. Hier hat sich eine Gruppe Schreibender verschanzt, „bemüht, eine Chronik zu verfassen, die den Nachgeborenen die derzeitige Gegenwart begreiflich zu machen hilft“. Rund um die Uhr hauen die sieben Mitglieder der „Gruppe der sieben Gefahren“ in die Tasten.
Langsam werden Figuren sichtbar. Menschen mit sprechenden Namen treten in Erscheinung, ein Wissenschaftler namens Justus Geheimnis oder der „Toilettentester und Waschraumexperte“ Ladislaus Kampf. Jeder hat sein Päckchen zu tragen: Geheimnis etwa leidet unter einem rätselhaften Dröhnen im Ohr, Kampf unter den dünnen Wänden seiner Wohnung, den an Deix-Figuren erinnernden Nachbarn und an dem Gefühl, im Leben zu kurz gekommen zu sein.
Die Orientierung im Text fällt zunächst schwer. Meschik erzählt nicht chronologisch, er springt von A nach F, zurück nach D, um schließlich ganz woanders zu landen. Unablässig dreht er an seinem Kaleidoskop, Schauplätze und Figuren wechseln auf bisweilen verwirrende Weise. Dass man sich spätestens in der Mitte des Romans doch halbwegs auskennt, zeugt letztlich doch von einem geschickten dramaturgischen Aufbau. Als ein Motor des Romans dient das im Titel präsente Medikament Luzidin, ein Wundermittel, das Wachträume nach eigenem Bestimmen ermöglicht. Die Nebenwirkung der Droge ist, dass niemand mehr in der Realität leben möchte – und dass Schlaf ausgedient hat.
Als Erklärung für manche grotesk verzerrte Passage wiederum mag gelten, dass Justus Geheimnis eine Maschine gebaut (und schließlich auch in Betrieb gesetzt) hat, die ein neues Universum – eine Zweitwelt – erschafft. Abziehbilder der Menschen laufen in ihr herum. Überall zeigen sich „Verdopplungen und Spiegelungen, Labyrinthe und Rätsel, neuerdings raschelt es mir unterm Gewand, als bestünde ich aus Papier“. In der Tat ist „Luzidin“ als Welt aus Papier zu begreifen. Vieles, was man zu lesen bekommt, entstammt den Texten der „Gruppe der sieben Gefahren“, deren Mitglieder Bücher wie „Das Liebesversäumnis“, „Einführung in die Feindeswissenschaft“ oder das Drehbuch zu dem absurden Kunstporno „Hodenstadel“ (!) verfassen.
Vieles muss man aber auch gar nicht so genau verstehen, um sich daran erfreuen zu können. Fulminant die Passagen, in denen das Geld (personifiziert als dicke, alte Frau) einen gutmütigen Humoristen dazu bringen will, seine Autobiografie zu verfassen; großartig die Schilderungen der Kämpfe, die sich Wien („weinschwer und träge, aber siegessicher“) in einem Einkaufszentrum mit Berlin und danach auch mit Gott liefert. Letzterer wird als widerlicher Greis geschildert, der es mit sich selbst treibt und sich nebenbei um die Auslöschung schlechter Autoren kümmert („Dein Versmaß ist veraltet. Deine Protagonisten werden immer unglaubwürdiger“).
Meschik stellt auch an sich selbst hohe Ansprüche, wie poetologische Einschübe beweisen: „Absolute Sprachbeherrschung ist das Minimum, weniger sollte in der Schreibendenwelt gar nicht vorgesehen sein. (...) Hinzukommen müssen Wille und Fähigkeit zur Sprachspekulation.“ Manchmal ist einem sein Buch auch ein bisschen unheimlich. Aber es entschädigt immer wieder für die Lektüremühen, nicht zuletzt durch scheinbar beiläufige kleine Sätze, die einem gerade im Gefüge eines großen Romans sehr nahe gehen. So sagt ein Betrunkener im Nachtbus zum Fahrer aus vollem Herzen: „Vielen Dank, dass du das machst, du bringst uns alle nach Hause.“
Ganz am Schluss wäscht ein „Buchstabenregen“ alles weg: „Die Buchstaben versickern in der Stadt und machen Wien zu einem fruchtbaren Boden. Das Erzählbare ist überall. Es wartet auf Schatzsucher, die mit Bleistiften ihre Nuggets aus dem Untergrund hebeln.“ Wer so schreibt, dem werden die Ideen so schnell nicht ausgehen.
Sebastian Fasthuber, Falter
Lukas Meschiks Luzidin oder Die Stille ist in seiner ausufernden Art ein Ungetüm, ein Monster - auf fast 600 Seiten entfaltet sich eine Welt, die in ihrer Ähnlichkeit mit der unseren verstört. Das Buch setzt ein, irgendwo zwischen Physik und Philosophie, beginnt im ganz Großen, im Universum, um dann in Wien anzukommen, dem Mittelpunkt der Welt, die Lukas Meschik in seinem zweiten Roman beschreibt:
Sieben Personen stehen im Zentrum der Handlung: Die Gruppe der sieben Gefahren. Sie besteht aus Schreibenden, die eine vom Verfall gekennzeichnete Welt dokumentieren. Und die Zersetzung des Äußeren bedingt eine Haltlosigkeit des Einzelnen, resultiert in der Brüchigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Jedes Mitglied der Gruppe der sieben Gefahren wird von dem Risiko bestimmt, einer der Gefahren anheim zu fallen: Die Einsamkeit ist eine dieser Gefahren, ebenso die Verwahrlosung. Aber auch die Gefahr Anzukommen findet sich darunter. Sehr konkrete, reihen sich an ideell gedachte Gefahren und alle manifestieren sich im Leben jeweils einer Figur. Schlussendlich scheitern sie und auch davon erzählt das Buch – vom Versuch etwas zu unternehmen und der Unmöglichkeit Veränderung herbeizuführen. Vieles passiert gleichzeitig: Eine Kreismaschine, in deren Inneren der Urknall wiederholt werden soll, wird nach Wien transportiert und zum Funktionieren gebracht. Doch es unterläuft ein Fehler, der nicht ohne Folgen bleibt: Die Zeitebenen werden verschoben und die Erzählung läuft gleichsam gedoppelt weiter.
Die teilweise Absurdität des Werkes ergibt sich daraus, dass Lukas Meschik nicht davor zurückschreckt großen Entitäten Gestalt zu verleihen und sie als konkrete Figuren auftreten lässt: Gott sitzt als zweigeschlechtliches Wesen, seiner selbst überdrüssig auf seinem Sessel, masturbiert und beobachtet dabei den ihn von Innen auffressenden Krebs. Das Geld versucht einen der Schreibenden dazu zu bringen, seine Autobiographie zu verfassen und verführt ihn damit.
In seiner Erzählweise folgt Lukas Meschik keiner stringenten Narration, vielmehr arbeitet er assoziativ, denkt einzelne unabhängige Versatzstücke zusammen. Die nicht klar festzumachende Chronologie der Ereignisse führt zu einem Gefühl der Gleichzeitigkeit. Immer wieder wird die Narration unterbrochen und Traumsequenzen bzw. bizarre Blöcke, die ausschließlich aus Fragen über Fragen bestehen, setzen ein. Zeit und Raum stellen keine klar voneinander unterscheidbaren Größen mehr da und so lockt ein Happy End bei gleichzeitiger Apokalypse – die Überforderung wird zum vorherrschenden Element:
Luzidin oder die Stille stellt geistige Zivilisationskrankheiten aus. Es ist ein Buch über den Wahnsinn, der alle befällt, irgendwann - ein Wahnsinn, der so zentral und notwendig ist, dass er in Fabriken hergestellt werden muss. Die vielfältigen Möglichkeiten zur Veräußerung des eigenen Körpers werden befragt, auch der Zwang zur Optimierung des eigenen Lebens, der nicht zuletzt durch die Vision einer zweiten Existenz im Klartraum Ausdruck findet: Die Droge Luzidin wird als ein Medikament beschrieben, das ursprünglich zur Selbstmordprävention verschrieben wurde, jetzt jedoch allgemein gerne genommen wird.
Der Klartraum bietet eine Möglichkeit zur Flucht und macht das eigene Dasein dadurch erträglich. Trotz einem Hang zur Dekadenz, einer immer wiederkehrenden Todessehnsucht, definieren sich die Figuren in Luzidin oder die Stille stark über ihr Streben, ein anhaltendes Wollen. Luzidin oder die Stille ist ein die Phantasie beflügelndes Werk ohne fantastisch zu sein. Vielmehr ist es erstaunlich nüchtern in der Beschreibung individueller Lebenszusammenhänge. Wer Wien kennt, wer hier lebt, wird sich und seine Mitmenschen darin wiederfinden. Und die Beschreibungen der Stadt Wien, die ebenfalls als konkrete Figur auftritt, tragen durchaus misanthropische Züge. Es ist ein Wien voller Sehenswürdigkeiten und absonderlicher Orte.
Die Ambivalenz von Schönem und Hässlichem, das ständige Changieren zwischen poetischen und beklemmenden Passagen, prägen das Buch nicht nur inhaltlich, sondern auch auf einer sprachlichen Ebene. Meschik macht nicht Halt vor expliziten Beschreibungen und fokussiert dabei auf die Laster und vergessenen Verbrechen einer Gesellschaft.
Lukas Meschiks neuer Roman ist großartig konstruiert und in seiner Dramaturgie beeindruckend: Die zentralen Figuren finden zu einem Ende und trotz der vielen Leerstellen, offenen Enden und Fragen, die zurückbleiben, erscheint das monumentale Werk Luzidin oder die Stille nach dem Lesen als ein abgeschlossenes. Es verdichtet und bricht die Umstände des Alltäglichen und macht sie so begreifbar, aber auch angreifbar. Der Roman Luzidin oder die Stille ist so voller Handlung, so voller Inhalt, dass die fast 600 Seiten nahezu nicht reichen. Es ist ein forderndes Experiment sich dieser Gedankenflut auszusetzen. Und noch mehr, diese mitzudenken.
Andrea Imler, Ö1 Ex libris