Von dieser Seite kennt man Nathaniel Hawthorne noch nicht. Man kennt ihn als den großen spätromantischen Grübler und Melancholiker unter den amerikanischen Erzählern des 19. Jahrhunderts, als Moralisten und Allegoriker, auch als den Chronisten und Kritiker des neuenglischen Puritanismus, vor allem im Roman «Der scharlachrote Buchstabe». Man kannte Nathaniel Hawthorne jedoch bisher nicht von seiner privaten und intimen Seite als Familienvater, als entspannten Alltags-Chronisten mit Sinn für alle Komik des häuslichen Lebens, als amüsierten Beobachter und gutgelaunten Porträtisten seines kleinen Sohnes.
Im Sommer 1851 war Hawthorne fast drei Wochen lang Strohwitwer. Seine Frau war mit den beiden kleinen Töchtern ihre Eltern in Boston besuchen gefahren, und der Autor blieb in dem roten Bauernhaus der Familie in den ländlichen Berkshires von Massachusetts zurück ? allein mit seinem fünfjährigen Söhnchen Julian, nicht zu vergessen das zahme Kaninchen Bunny. Für seine Frau führte Hawthorne in ihrer Abwesenheit Tagebuch; er notierte die kleinen Begebenheiten im Haushalt und die täglichen Unternehmungen mit Julian.
Länger als ein Jahrhundert blieb dieses Tagebuch weitgehend unbeachtet, begraben als Teilkapitel im umfangreichen, aber wenig gelesenen Journal-Werk des Autors, seinen «American Notebooks». Erst 1972 erschien das kleine Sommer-Tagebuch in den USA erstmals in Buchform als selbständige Auskoppelung aus diesen Notizbüchern, und seit es 2003 mit einem Nachwort von Paul Auster neu aufgelegt wurde, gilt «Twenty Days with Julian & Little Bunny by Papa» unter Kennern als kostbares Fundstück und Lektüre-Juwel nicht nur für Hawthorne-Liebhaber. Jetzt endlich liegt «Zwanzig Tage mit Julian und Little Bunny» auch auf Deutsch vor, sehr beschwingt übersetzt von Alexander Pechmann.
Auf knappen siebzig Buchseiten entfaltet Hawthorne so etwas wie ein Tagebuch der Nicht-Ereignisse ? ein heiteres und liebenswürdiges Bild von den täglichen Verrichtungen von Vater und Sohn. Deren Unternehmungen könnten unscheinbarer nicht sein ? vom morgendlichen Milchholen beim Bauern über die Spaziergänge zum See oder ins Dorf zum Postholen bis zum frugalen Abendessen für Vater und Sohn, nicht zu vergessen die Salatblätter für Little Bunny, das Kaninchen. Einmal wird Julian von einer Wespe gestochen, einmal retten Vater und Sohn ein Kätzchen, das in einen Brunnen gefallen ist. Und hin und wieder wird das idyllische und etwas schläfrige sommerliche Gleichmaß der Tage unterbrochen durch einen Besuch oder einen Ausflug mit Picknick ? am bemerkenswertesten natürlich, wenn der Besucher Herman Melville heißt, Hawthornes Schriftsteller-Kollege und Freund, der sich in der Nachbarschaft angesiedelt hat.
Was diese scheinbar wenig spektakulären Aufzeichnungen so einzigartig macht, ist Hawthornes subtile Beobachtungsgabe, sein genauer und überraschend moderner Blick auf das kindliche Verhalten seines Sohnes, das er mit liebevollem Humor und großer Vergnügtheit beschreibt. Der kleine Julian ist ein lebhafter, neugieriger, redseliger und stets gutgelaunter Junge, der seinen Vater mit einem unaufhörlichen Regen von Schwatzhaftigkeit überschüttet. Manchmal ärgert das den Vater, weil es ihn vom Lesen, vom Schreiben und vom Denken abhält; meistens aber reagiert er amüsiert und fühlt sich vom Geplauder des Jungen eher unterhalten als genervt.
Als Vater, der vorübergehend auch die Mutterrolle zu spielen hat, ist Hawthorne anfangs ungeübt; doch er kommentiert seine eigene Ungeschicklichkeit mit so viel Selbstironie und Charme, dass ihm die Sympathie des Lesers über die Entfernung von 160 Jahren sicher ist. Sogar der stumme Hausgenosse, der temperamentlose und ängstliche Little Bunny, erwacht unter Hawthornes Beschreibungsprägnanz zu einem Kaninchen von Charakter und Eigensinn.
Paul Auster bemerkt in seinem Nachwort, dass wir heute das Treiben unserer Kinder eher mit der Videokamera oder mit Handy-Schnappschüssen festhalten als mit Worten. Er schreibt, Worte seien jedoch besser, denn sie dringen tiefer als Fotografien. Es müssen allerdings die genauen und treffenden Sätze eines Meisters wie Nathaniel Hawthorne sein, wenn sie die Erinnerung an ein Kind von vor 150 Jahren lebendig halten sollen, zum Entzücken heutiger Leser.